Wednesday 25 March 2015

Interview mit SAM CHARTERS - Nachruf auf einen Musikforscher extraordinaire


Zeit der Entdeckungen

Niemand kannte die schwarze Musik besser als Samuel 'Sam' Charters. Der legendäre Bluesforscher hat Lightnin’ Hopkins wiederentdeckt, Aufnahmen mit Muddy Waters gemacht und Country Joe & The Fish produziert. Jetzt ist er im Alten von 85 Jahren gestorben.


                                                                                          Ann und Sam Charters (Foto: Manuel Wagner)

 CW. Samuel Charters (Jahrgang 1929) war einer der bedeutensten Bluesforscher der Gegenwart. Er hat mehr als 30 Bücher veröffentlicht, darunter etliche Standardwerke. In den 50er Jahren gehörte Charters zu den ersten, die im amerikanischen Süden vergessene Bluesbarden aufstöberten. Als Musiker studierte er Klarinette mit George Lewis in New Orleans und spielte mit Danny Kalb (später: The Blues Project) in der Gruppe The New Strangers. Charters produzierte mehr als 300 Alben für die Labels Folkways, Prestige, Vanguard und Sonet. Aus Protest gegen die Kriegspolitik der USA wanderte er Ende der 60er Jahre nach Schweden aus und pendelte seither zwischen Schweden und den USA.

Sie haben ihr Leben der schwarzen Musik gewidmet. Wann erwachte ihr Interesse?

Sam Charters: Ich hörte meine erste Bluesplatte 1937, als mir mein Onkel Bessie Smith mit “Nobody knows you when you’re down and out” vorspielte. Mein Onkel war elf Jahre älter als ich und ein Jazzfan, der sich für außerdem Blues interessierte. Zuerst faszinierte mich der klassische Blues von Bessie Smith und Ma Rainey, die von großen Jazzmusikern wie Louis Armstrong begleitet wurden.
                                                                                                              Sam Charters mit Muddy Waters (Sammlung: Sam Charters)
Als ich dann 1948 in Kalifornien mit einer Amateur-Dixielandkapelle spielte, hörten wir am Ende jeder Probe immer unsere zwei einzigen Schellackplatten an: Blind Willie Johnsons “Dark was the night, cold was the ground” und “Stones in my passway” von einem Musiker namens Robert Johnson. Wir hatten keine Ahnung, wer diese Sänger waren. Aber die Namen blieben im Gedächtnis haften. In den 50er Jahren machte ich mich dann auf die Suche nach ihnen.

Es gab nur die alten Schellackplatten. Niemand wusste, ob die längst  vergessenen Bluesbarden auf den Scheiben überhaupt noch am Leben waren. Wie stöberten Sie sie auf?

Sam Charters: Wir gingen in die schwarzen Ghettos und fragten im Frisörsalon. Der Frisör kannte jeden. Wir mussten aufpassen, dass uns die weißen Polizei nicht etappte, sonst hätte es Ärger gegeben. Im Süden herrschte praktisch Apartheid und wenn man als Weißer ins schwarze Ghetto ging, störte man die Ordnung.

In die Schellackplatten war der Aufnahmeort als Code eingeritzt. Also fuhren wir in diesen Ort und fragten herum. War man in der richtigen Ortschaft, fand man auch den jeweiligen Musiker, weil Musiker in ihrer Community bekannt waren. Normalerweise gab uns der Frisör nicht die Adresse, sondern kontaktierte den jeweiligen Musiker und fragte, ob wir ihn besuchen könnten. Lightnin’ Hopkins fuhr mit seinem Auto an einer Ampel zu mir auf und sagte: “Du suchst mich!”

Meine einzige Schallplatte von Robert Johnson war in San Antonio in Texas aufgenommen worden. Die einzige Spur. Wir fanden ihn nicht. Kein Wunder, denn er lebte in Mississippi. Für uns Bluesfanatiker war es aufregend, diese Bluessänger aufzuspüren. Wir hatten keine großen Kenntnisse. Jede Schallplatte, die wir fanden, war eine neue Entdeckung, jeder Sänger eine neue Welt. Ich machte einen enormen Lernprozeß durch. Die fünfziger und sechziger Jahre waren eine wunderbare Zeit. Wir bemerkten, dass es unter der Oberfläche eine andere alternative Kultur in Amerika gab.

Das war Dedektivarbeit. Sie mussten das Puzzle Stück für Stück zusammensetzen. Was genau haben sie gelernt?

Sam Charters: Die Plattenfirmen in den 1920er Jahren waren ausschließlich an Blues interessiert. Das war das einzige was sich im Norden verkaufte. Aber diese Musiker waren Songsters. Sie kannte die unterschiedlichsten Songs, und nur ein paar davon waren Blues. Das waren jedoch die einzigen Lieder, die aufgenommen wurden.

Das Problem für Leute wie mich war, dass wir nicht religiös waren. Das machte uns blind für die Tatsache, dass die schwarze Community tiefreligiös war. Achtzig Prozent der Lieder waren Spirituals und Gospels, nur ein paar wenige Blues. Und diese Nummern waren wirklich keine Hilfe in der Situation, in der sich die afro-amerikanische Bevölkerung befand. Im Gegensatz dazu war die Kirche ihre einzige Stütze: ihr Zufluchtsort, ihr soziales Zentrum, ihre Organisation. Der einzige Ort, wo sie freier waren als sonst. Die Kirche hielt alles zusammen. Was oft übersehen wird, ist, wie hinterhältig das Apartheid-System im amerikanischen Süden war. Es wurde mit Gewalt durchgesetzt. In der Kirche war man davor in Sicherheit.

Jeder konnte sich im Gottesdienst äußern, man brauchte nur aufzustehen. Für schwarze Bedienstete in weißen Haushalten war das die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Lange habe ich die überwältigende Bedeutung der schwarzen Kirche und der Religion für das Leben der Afro-Amerikaner nicht wirklich verstanden. Die Gospel-Songs von Blind Willie Johnson verkauften sich Ende der 1920er Jahre um ein Vielfaches besser als die Blues-Nummern von Bessie Smith. Das heisst: die schwarze Community wollte mit Blues-Songs nichts zu tun haben. Der Blues bestätigte und verstärkte nur die Vorurteile der Weißen gegenüber den Afro-Amerikanern: dass sie sich dauernd betrinken, viele Frauen haben, keine Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und Herumtreiber sind. Genau dieses Bild zeichnete der Blues, der von den weißen Schallplattenfirmen verkauft wurde: eine schwarze Community im Chaos – verwahrlost! Deshalb wollte die schwarze Mittelschicht nichts mit dem Blues zu tun haben. Es war schwierig für mich, das zu verstehen, weil ich ein typischer Aussteiger und Rebell aus der Mittelschicht war, der Kirche und Religion ablehnte. Ich begriff nicht, dass diese Dinge für die schwarze Bevölkerung essentiell waren und immer noch sind. In Harlem gibt es heute 500 Kirchen. Ich habe dort noch nie einen Bluessänger gehört.

War es Neugierde, Sturm und Drang, der Reiz des Exotischen oder die Faszination schwarzer Musik - was war ihre Motivation?

Sam Charters: Alles zusammen. Aber vor allem wollte ich Aufnahmen machen. Ich kaufte mein erstes Tonbandgerät 1953, ein unhandliches Riesending, und machten Aufnahmen von jedem Sänger, den ich traf. Aus den Einspielungen stellte ich LPs für das Folkways-Label zusammen. Wir hatten das Gefühl, etwas zu retten, was ansonsten verloren gegangen wäre. Das erste Album, das ich herausgab, kam 1954 auf den Markt. 

Folkways war ein kleines unabhängiges Label mit ausgezeichneter Reputation, das von Moses Ash geleitet wurde. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit?

 Sam Charters mit Moses Ash (l.) (Sammlung: Samuel Charters)


Sam Charters: Moses Ash hatte verschiedene Plattenfirmen, die alle Pleite gingen, bevor er mit Folkways erfolgreicher war. Er betrachtete es als seine Mission, alles auf dem Planeten zu dokumentieren, was irgendeinen Klang von sich gab. Seine Vision war so umfassend, dass darin auch unsere Träume Platz fanden.

 (Ann Charters schaltet sich ins Gespräch ein)

Ann Charters: Wir heirateten 1959 und unternahmen dann die “Recording Trips” gemeinsam: Sam machte die Aufnahmen, edierte das Material und schrieb die Liner-Notes, ich machte die Fotos. Normalerweise bekam man von Folkways 50 Dollar pro Album, was nicht schlecht war. Normalerweise wollte Moses Ash für die Veröffentlichungen nicht bezahlen, in unserem Fall tat er es.

Folkways wurde von Mo Ash und Marian Distler betrieben, die ausgleichend zu seiner schroffen Art wirkte. Die Geschäftsräume waren in einem schäbigen Gebäude am Time Square. Unser Freund, der Folksänger Dave Van Ronk, bekam einmal für eine Folkways-Einspielung lange Zeit kein Geld. Er zog die abgerissensten Kleider an und ging zu Folkways. Er drohte Mo Ash, dass, wenn er nicht sofort sein Geld bekäme, er vor dem Gebäude herumlungern würde, damit jedermann sehen könnte, wie verwahrlost seine Künstler sind.

Bei den Parties von Folkways traf man die ganzen Musiker und Literaten, die mit dem Label zu tun hatten. Pete Seeger war da oder Jean Richie, die in einer Ecke saß und Lieder sang. Viele mochten Mo Ash wegen dieser intellektuell stimulierenden Atmosphäre.

Sam Charters: Folkways verdiente nie richtig Geld. Mo Ash kam aus einem begüterten Haus, doch seine Firma stand immer kurz vor der Pleite. Er schuldete jedem Geld. Wenn auch nur einer der Schuldner einen Zahlungsbefehl erwirkt hätte, wäre Folkways wie ein Kartenhaus eingestürzt.

Das große Plus von Folkways war, dass das Label seine Veröffentlichungen bis in alle Ewigkeit im Katalog behielt. Diese Garantie war allerdings auch fatal, weil die Platten irgendwo gelagert werden mussten. Ashs ganzes Geld saß in diesen unverkäuflichen Platten fest. Obwohl sie in kleinen Auflagen gepresst wurden, vielleicht dreihundert Stück, dauerte es lange, bis sie verkauft waren. Als ich Mo Ash das letzte Mal traf, gab er mir eine Schallplatte und sagte: “Charters, das must Du Dir anhören. Das ist die besten Platte, die es gibt.” Auf der Platte sang ein Überlebender jiddische Lieder aus den Nazi-Vernichtungslagern. Wer anders als Folkways hätte eine solche Platte veröffentlicht?

Folkways war politisch links, wie wir alle damals, und wurde deshalb vom FBI überwacht. Dass das Label Platten von Pete Seeger herausgab, der als Kommunist galt, machte Folkways zum Ziel staatlicher Bespitzelung.

Sie wurden mehr und mehr zum Plattenproduzenten. Für das Plattenlabel Vanguard haben sie mit Country Joe & The Fish gearbeitet….

Sam Charters: Doch davor wurde ich von Prestige engagiert, um im Süden Bluesaufnahmen  zu machen. Aber diese Platten verkauften sich nie in Massen. Wenn wir nach ein paar Jahren tausend verkauft hatten, betranken wir uns zur Feier des Tages. Dann nahm ich die Folksänger auf, die damals in Greenwich Village bekannt wurden: Geoff Muldaur, Dave Van Ronk, Eric von Schmidt und die Holy Modal Rounders – all diese Verrückten aus dem Village.
                                                                                  
                                                                                 Sam Charters mit der Muddy Waters Band in Chicago

Danach wurde ich von Vanguard angeheuert, um die Aufnahmen vom Newport Folkfestival von 1963 zu edieren. Danach gab mir das Label 5000 Dollar und auf gings nach Chicago, um Aufnahmen u.a. mit Muddy Waters zu machen. Drei Alben entstanden daraus. Dem folgte eine Reise nach San Francisco, wo ich Country Joe & The Fish aufnahm. Die Band gehörte zur radikalen Linken. Sie brachten zu ihren Auftritten eine lebensgroße Lenin-Pappfigur auf die Bühne. Vanguard war ein mutiges Label. Es veröffentlichte sowohl Paul Robeson als auch The Weavers mit Pete Seeger, die alle wegen ihren politischen Ansichten Ärger hatten. Dann brachte Vanguard Joan Baez heraus, die ebenfalls politisch kein Blatt vor den Mund nahm, und machte sie zu einem Star – fantastisch.


In Downtown Manhattan gab nicht nur die Folkszene in Greenwich Village, es gab bildende Künstler, avantgardistische Komponisten wie John Cage, es gab Beat-Poeten, Underground-Rocker und moderne Jazzmusiker. Warum wurde die Gegend zum Treibhaus so vieler Entwicklungen?

Sam Charters: Wir waren alle bettelarm, aber in Downtown Manhattan konnte man billig wohnen. Mit drei Tagen Arbeit in der Woche kam man durch. Jobs waren leicht zu finden. Jeder hatte irgendeine kleine Arbeit. Das reichte, um über die Runden zu kommen, und in der restlichen Zeit konnten man kreativ sein.

Als das Folkrevival in Schwung kam, standen wir auf einmal im Rampenlicht. Alles veränderte sich. Wir waren keine Außenseiter mehr und erhielten Gehör. Wir waren sehr politisch. Ich teilte mit dem Folkmusiker Dave Van Ronk eine Wohnung in der McDougal Street. Dort traf sich Van Ronks Zelle der Socialist Workers Party – 12 Mitglieder. Wie sich später herausstellte, arbeitete fünf fürs FBI. Oft ging man zu irgendeiner Demonstration. Überall schossen Coffee Houses aus dem Boden. Die Beat-Lyriker Jack Kerouac und Allen Ginsberg hatten ihr Hauptquartier in einer Kneipe gleich um die Ecke, wo sie ihre Besäufnisse abhielten. Und es gab Jazz – überall! Wir hörten Miles Davis mit Cannonball Adderley und John Coltrane das erste Mal in einem Restaurant, wo man für 25 Cents einfach reingehen konnte und an einem Tisch Bier trinken. Ging man die Straße runter, spielte in einer anderen Bar Charlie Parker. Einmal landeten wir in einem  richtigen Loch von einer Bar und ein Pianist spielte die abgefahreste Musik: Thelonious Monk! Es war eine schäbige Bar, kein Eintritt, Leute gingen ein und aus, und hier spielte Monk an einem ausgeleierten Klavier mit seiner Band. Gleichzeitig entstanden kleine Kunstgalerien. Es gab Happenings. Es war eine wunderbar verrückte Zeit. Dann kam das Jahr 1957 und Elvis, und alles kam zum Stillstand.

Die Beat-Poeten gehörten zum Underground. Allen Ginsberg war der bekannteste. Welche Rolle kam ihm zu?

(Ann Charters schaltet sich in das Gespräch ein)

Ann Charters: Allen Ginsberg war mit seinem Gedicht “Howl” zu einer Berühmtheit geworden. Er lebte im East Village nicht weit von uns. Jüngere Poeten wie Ed Sanders traten in seine Fußstapfen. Sanders betrieb auf der Lower East Side den “Peace Eye Bookstore” und wurde bald mit den Fugs bekannt. Eines Tages fand eine Dichterlesung gegen den Krieg in Vietnam in der “St. Marks Church in the Bowery” statt. Mit unserem Tonbandgerät nahm ich 25 Dichter auf, die dort lasen. Ausschnitte der Lesung erschienen 1967 auf der Langspielplatte “Poems for Peace”.

Sam Charters: Wir zogen nach Brooklyn, weil es mit Kindern nicht mehr sicher auf der Lower East Side war. Allen Ginsberg besuchte uns gelegentlich, um sich alte Blues-Platten anzuhören. Ich hatte viele Schellacks und es gab ja damals noch keine Re-Issues. Wir sangen unserer kleinen Tochter überlicherweise ein Gute-Nachtlied und Allen nahm daran teil. Er beugte sich mit seinem buschigen Bart über das Bett und sang einen seiner William-Blake-Songs - ziemlich laut. Sie sah ein bisschen verdattert aus, aber schlief rasch ein. Am nächsten Morgen kam sie nicht aus ihrem Zimmer. Ich ging hinein. Da stand sie und fragte: “Ist dieser Mann noch da?”

Bob Dylan wurde zum Superstar. Die Plattenfirmen horchten auf, kamen ins Village um nach weiteren Musikern mit Starpotential zu suchen. Wie veränderte das die Szenerie?

Sam Charters: Dylan wollte den Erfolg. Er war eine komplizierte Persönlichkeit, aber Folksänger wie Phil Ochs verehrten ihn. Nachdem er nach Woodstock in Upstate New York gezogen war, kam er nur noch einmal zu einer unserer Partys. Er trug damals eine Halskrause nach seinem Motorradunfall.

Schon vor dem Hype hatte die Pille und LSD alles verändert. Die rebellische Jugend wurde mit Sex und Drogen ruhig gestellt. 1966 war ich in San Francisco und jeder war total “stoned”. Das war nicht das, was wir uns vorgestellt hatten. All die Freiheit, das Aufregende verflüchtigte sich.

(Ann Charters schaltet sich wieder ein)

Ann Charters: Mit den harten Drogen ging es dann erst richtig bergab. Die Lower East Side wurde gefährlich: Einbrüche, Überfälle, Drogenhandel. Durch Sex, Drugs & Rock ‘n’ Roll kam die idealistisch-politische Phase zu einem Ende.



DAS INTERVIEW WURDE ZUERST IN DER ZEITSCHRIFT JAZZTETHIK (www.jazzthetik.de) VERÖFFENTLICHT



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