Saturday 22 March 2014

Circuit Bending: Die digitale Verwandlung

 Musik aus der Recycling-Tonne

Das Modified Toy Orchestra macht mit ausgebrauchtem Spielzeug elektronische Popmusik

cw. Das Modified Toy Orchestra ist keine Popgruppe wie jede andere. Der Grund: das Instrumentarium der Band besteht ausschließlich aus ausgedientem elektronischen Kinderspielzeug. Die Formation kommt aus der “circuit bending”-Bewegung der Elektronikszene, die das kreative Kurzschließen von Schaltkreisen in elektronischen Gebrauchsgegenständen auf ihre Fahnen geschrieben hat. Mit digitalen Geräten des modernen Alltags wie Spielsachen, Mobiltelefonen, Funkuhren und Lerngeräten, die piepsen, sprechen und kleine Melodien spielen, machen junge Musiker in den USA, Japan und Europa eine neuartige elektronische Musik, die manchmal lärmig-chaotisch und manchmal poppig-liedhaft klingt.

Das Modified Toy Orchestra ist eine der führenden Ensembles des Genres. Die Gruppe aus dem englischen Birmingham wurde vor zehn Jahren von Brian Duffy gegründet, der sich damals als Musiker in einer Schaffenskrise befand. “Ich verlor das Interesse an Gitarren, Keyboards und Blasinstrumenten. Es frustrierte mich, im Möglichkeitsraum dieser Instrumente gefangen zu sein. Immer die gleichen Akkordfolgen, die selben Intervalle – ich sah keinen Sinn mehr darin,” erinnert sich der Musiker. Als er zufällig eine elektronische Rechtschreibmaschine mit einer synthetischen Stimme auf einem Flohmarkt fand,  erregte das sein Interesse. “Ich versuchte zu erkunden, wie diese künstliche Stimme zustande kam und öffnete das Spielzeug, um irgend einen Hinweise zu finden. Während ich die Schaltkreise erkundete, schloß ich sie kurz und das Gerät fing an, andere Geräusche zu machen, die Stimme verzerrte und ein elektronisches Piepsen war zu hören. Das war eine Entdeckung!”
 
Duffy fing systematischer an, elektronische Spielsachen zusammenzutragen und ihre Schaltkreise umzupolen, um neue Sounds zu erzeugen. “Ich begab mich auf eine Reise durch die versteckte Welt der Geräusche, Klänge und Töne dieser elektronischen Spielsachen.” Mit der Zeit dämmerte ihm, dass er das Kinderspielzeug in Musikinstrumente verwandelte, mit denen man auf die Bühne gehen und Konzerte geben konnte.

Nach Jahren des Experimentierens und diverser Soloauftritte gründete Brian Duffy vor zehn Jahren das Modified Toy Orchestra, das anstatt konventioneller Musikinstrumente ausschließlich digitale Spielgeräte verwendet. Zwei Grundsätze kommen dabei zum Tragen:  “Wir benutzen nur Spielsachen, die keinen Wert mehr besitzen, also Abfall sind, um daraus etwas Interessantes zu kreieren,” erklärt Duffy. “Überdies dürfen diese Geräte nicht mehr als £ 1 kosten. Wir finden sie in der Mülltonne, im Recycling-Zentrum und auf Flohmärkten.”

Hinter diesem Wiederverwendungsprinzip steht die alte alchemistische Idee, aus Schrott Gold zu machen. Dazu kommt ein radikaldemokratischer Gedanke: Weil für diese Form des Musikmachens kein Vorwissen erforderlich ist und alle am gleichen Ausgangspunkt beginnen, kann jeder mitmachen.

Mit dem Modified Toy Orchestra macht Brian Duffy heute eine elektronische Popmusik im Songformat mit eingängigem Beat, wobei in jedem Stück eine Reihe ganz speziell dafür präparierter Spielsachen zum Einsatz kommt: Barbie-Puppen, Kinderkeyboards, digitale Spielzeug-Gitarren ohne Saiten, dazu elektronische Drum-Maschinen und Lerngeräte. “Von manchen Instrumenten haben wir nur ein Exemplar gefunden. Wenn so ein Gerät kaputtgeht, können wir ein bestimmtes Stück nicht mehr spielen, was sehr frustrierend ist,” erklärt Duffy.

Das Umpolen von Schaltkreisen (engl. circuit bending) bietet die Möglichkeit, sich in unbekannte und fremdartige Klanglandschaften zu begeben, die voller Überraschungen sind. “Die Spielgeräte bieten die Möglichkeit, mit Musik anders zu verfahren. Es geht darum, mit den Beschränkungen der Spielzeuge zu arbeiten, sich ihren Begrenzungen zu unterwerfen,” erklärt Duffy. “Begrenzungen sind das Inspirierendste, was es gibt!”

Der Artikel erschien zuerst im Schwarzwälder Bote.
Ein längeres Interview mit Brian Duffy erscheint in der Neue Zeitschrift für Musik, 2-2014.


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