Tuesday 29 December 2015

Death Metal: Zum Tod von Lemmy Kilmister


Der letzte seiner Art

Heavy Metal-Ikone Lemmy stirbt in Los Angeles im Alter von 70 Jahren



Er war Roadie von Jimi Hendrix, spielte bei den Space-Rockern von Hawkwind und war fast 40 Jahre lang Kopf von Motörhead, der brachialsten Rockband auf dem Planeten. Lemmy Kilmister hat den Wahnsinn des Rockgeschäfts gelebt und voll ausgekostet. Jetzt ist der Bassgitarrist und Sänger kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag an einer aggressiven Form von Krebs in Los Angeles verstorben. Mit ihm verliert die Rockszene eine ihrer prägnantesten Gestalten. Der Mann mit dem schwarzen Kavalleriehut, den schulterlangen Haaren, einem massiven Schnauzer und ein paar Warzen im Gesicht war der letzten seine Art.

Lemmy war ein kluger Kopf, der mit Integrität und Leidenschaft seiner scharf umrissenen Vision von Rock ‘n’ Roll folgte. Songs von schnörkelloser Klarheit mit ohrenbetäubender Wucht und in rasantem Tempo vorgetragen, dazu mit rostiger Reibeisenstimme herausgebellt, so sah sein Ideal von Rockmusik aus. “Grimmig und freudig zugleich!” umriß er das Rezept, das selbst wildesten Punks in Ekstase versetzte. Auf 22 Alben hat Lemmy mit Motörhead seine musikalische Utopie realisiert. In Südwestdeutschland war die Band öfters zu Gast, ob in der Stuttgart oder beim Balinger “Bang Your Head”. Der letzte Auftritt fand erst vor einem Monat in Ludwigsburg statt. Im Februar nächsten Jahres hätte die 40-Jahre-Jubiläums-Tour über die Bühne gehen sollen.

Am Heiligen Abend 1945 geboren, erfuhr Ian Fraser Kilmister die Erleuchtung noch während der Schulzeit. “Ich habe die Geburt des Rock ‘n’ Roll aus erster Hand erlebt,” beschrieb er das Erlebnis. Eddie Cochran und Buddy Holy hießen seine Favoriten, wobei der Teenager schnell lernte, dass man mit Gitarre nicht nur wilde Musik machen konnte, sondern auch mehr Erfolg bei den Mädchen hatte. 

In Stoke-On-Trend, einer Kleinstadt in Mittelengland, geboren, wuchs Kilmister bei seiner Mutter und Großmutter auf. Zoff mit Lehrern führte zum Schulausschluß. Zeitweise arbeitete er am Fließband einer Waschmaschinenfabrik. Mit 16 Jahren begann er in Beatbands Gitarre zu spielen. Es zog ihn nach London, wo er als Herumtreiber in besetzten Häusern lebte und als Roadie die Verstärker von Jimi Hendrix herumschleppte. Mehr und mehr bestimmten Drogen sein Leben. 1971 heuerten ihn die Space-Rocker von Hawkwind als Sänger und Bassisten an. “Mach ein bisschen Lärm in E”, wurde ihm gesagt. Lemmy sang “Silver Machine”, den einzigen Hit der Gruppe.

Hawkwind war die ultimative Drogenband. Als “ein schwarzer Albtraum” beschrieb Lemmy später seine Zeit bei der Formation. Gegen die Tourstrapazen kämpfte er mit Aufputschmittel und Alkohol an. “In welcher Richtung befindet sich das Publikum?” musste er gelegentlich den Roadie fragen, der ihn auf die Bühne hob und gegen einen Verstärker lehnte, sonst hätte er sich nicht auf den Beinen halten können. Doch während nicht so robuste Naturen psychisch und physisch zusammenklappten, schien Lemmy unverwüstlich. Allerdings holten ihn den letzten Jahren die Exzesse ein. Immer öfters musste Motörhead Konzerte und Tourneen absagen. Nach einer Operation machte sein Herz die Gewaltouren kaum noch mit.

1975 ekelten ihn seine Mitmusiker von Hawkwind aus der Band, und das nicht gerade auf die feine englische Art. Auf US-Tournee an einer einsamen Raststätte machten sie sich klammheimlich aus dem Staub, als Lemmy die Toilette aufsuchte. Es war nicht das erste Mal, dass er “gestrandet” war. Diese Fiesigkeit hat er den Hawkwind-Musikern nie verziehen. Er rächte sich damit, dass er Equipment aus dem Lagerraum der Band stahl, um Motörhead auf die Beine zu stellen. Doch es lief nicht wie geplant. Zwei Jahre später stand die Gruppe vor dem Aus: “Wir hungerten, wir lebten in besetzten Häuser, nichts passierte.”


Erst das Album “Ace of Spades” brachte 1980 den Erfolg. Motörhead war jetzt dauernd auf Tour: “Du bist monatelang unterwegs und meistens nicht sicher, wo du gerade bist,” beschrieb er das Musikerdasein. “Es geht alles ineinander über und alles sieht irgendwie gleich aus.” Damals begann Lemmy einen Groll gegenüber der Musikindustrie zu entwickeln. Ärger mit Produzenten und Inkompetenz von Plattenfirmen führten zur Desillusionierung mit dem Popgeschäft. “Niemand scheint mehr an die Musik zu glauben,”  lautet sein melancholisches Fazit. Unter der rauhen Schale war Lemmy eben ein Romantiker, ja sogar ein Idealist.

PLATTENCOVER: Doug Sahm - Groovers Paradise.


Ein weiterer Flomarkt-Fund, ein Album von Doug Sahm mit tollem Cover im Comix-Stil von Robert Crumb, gezeichnet von Kerry Fitzgerald, einem Plakatzeichner aus Austin, Texas. Ich war mir nicht bewußt, dass es dieses Album gibt. Doug Sahm war in den Sechzigern der Bandleader des Sir Douglas Quintets ("Mendecino") und hat eine frühe TexMex-Platte eingespielt, auf der Bob Dylan mitwirkte. Später spielte er mit den Texas Tornados. Für diese Scheibe hat er sich die Rhythmusgruppe von Creedence Clearwater Revival ausgeliehen: den Drummer Doug Clifford und den Baßgitarristen Stu Cook.



Ausschnitt des Frontcovers:

Coverrückseite:

Monday 21 December 2015

Banjo und Geige: Frühe amerikanische Musik

Amerikanische Familie mit Geige und Banjo, ca. 1860, in ihrer besten Kleidung. Sie haben sich offenbar für die Fotoaufnahme fein gemacht. Interessant ist, dass das Banjo offenbar keine Requisite des Fotografen ist, sondern dass das Mädchen offenbar spielen kann, auf was ihre Griffweise hindeutet. Das Banjo ist mit Bünde versehen, also keines der ganz frühen bundlosen Instrumente. Es sieht industriell gefertigt aus.

Tuesday 15 December 2015

Jazzdrummer Daniel Humair

 Von Paris nach Madagaskar

Im Tübinger Sudhaus öffnet Altmeister Daniel Humair den Jazz zur Weltmusik


cw. Im Jazz sind zumeist Pianisten oder Saxofonisten die Bandleader, selten Schlagzeuger. Der Schweizer Drummer Daniel Humair, der seit Ewigkeiten in Paris lebt, bildet die Ausnahme von der Regel. Der 77jährige hat 1960 seine erste Schallplatte aufgenommen, danach mit den besten Musikern aus Europa und den USA gearbeitet (darunter dem legendären Eric Dolphy), um heute als einer der Großen des modernen europäischen Jazz zu gelten.

Sein Quartett, mit dem er vor beachtlicher Kulisse im Tübinger Sudhaus auftrat, hat Humair mit jungen Talenten besetzt, die neue Tendenzen und Einflüsse in die Musik einbringen, gelegentlich auch in die freie Atonalität ausgreifen. So stellt der Schlagzeugveteran sicher, dass seine Musik auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nicht stillsteht, sondern sich kontinuierlich weiterentwickelt.

Emil Parisien hat sich aufs Sopransaxofon spezialisiert, das er mit Druck und großer Ausdruckskraft spielt, kompetent nicht nur in lyrischen Träumereien sondern auch im ekstatischen Powerplay. Ihm steht Akkordeonist Vincent Peirani in nichts nach. Mit atemberaubender Fingerfertigkeit huscht er über die Knöpfe seines Instrument und läßt dabei Melodien und Akkorde erklingen, die aus Nordafrika oder vom Balkan stammen könnten oder sich bei der exotischen Harmonik der Volksmusik von Madagaskar bedienen. Zusammen mit den manchmal arabisch anmutenden Saxofonschlängeleien von Parisien öffnet Peirani den Jazz zur Weltmusik, was ein zusätzliches tänzerisches Element einbringt.
Doch so virtuos und einfallsreich die jungen Musiker auch agieren, der Bandleader am Schlagzeug gibt doch nie vollständig die Führung aus der Hand. Nie trumpft er mit hohler Artistik auf, sondern begleitet dezent und geschmacksicher die improvisatorischen Exkursionen seiner Mitmusiker, um im entscheidenden Moment mit einem Akzent auf dem Becken oder einem mächtigen Trommelschlag sie wieder einzufangen und ins Fahrwasser der Komposition zurückzuführen. Jeder bekommt im ScheduleLaufe des Konzertabends sein Solo, beim dem auch Kontrabassist Jerome Regard seine Extraklasse unter Beweis stellt, der sonst mit mächtigen Ostinato-Figuren oder filigramen Swing für ein federndes Fundament sorgt.

Schlagzeuger und Bandleader Daniel Humair will sich nicht auch noch als Komponist beweisen. Einige der Stücke des Konzerts stammen aus der Feder von Musikern aus früheren Kooperationen, ob vom deutschen Pianisten Joachim Kühn oder vom französischen Saxofonisten Francois Jeanneau, mit denen Humair über die Jahre immer wieder zusammengearbeitet hat. Daneben läßt er auch hier seine jungen Bandmitglieder zum Zuge kommen. Humair hat es nicht mehr nötig, sich bei jeder Gelegentheit in den Vordergrund zu schieben. Eher zieht er ruhig und mit Bedacht im Hintergrund die Fäden und läßt lieber dem Nachwuchs den Vortritt.

Notker Homburger: Plattensammler & Musiker

Eingeborenenklänge vom Bodensee

Der Konstanzer Notker Homburger ist beides: leidenschaftlicher Plattensammler und Musiker mit weitem Horizont


 cw. “Schau dir diese hier an!” sagt Notker Homburger aufgekratzt und zieht eine weitere Schellack-Platte aus dem Regal. Auf dem Cover klebt ein Zettel, auf dem es heißt: “Spezial-Record, direkt vom Ausland importiert”. “Es ist eine Platte aus den USA des Bluesgitarristen Sylvester Weaver,” erklärt Homburger. “Sie wurde in den 1920er Jahren vom Odeon-Musik-Haus in Berlin verkauft. Er muß also in der Zwischenkriegszeit bereits Interessenten für schwarze Musik in Deutschland gegeben haben. Ist das nicht spannend?” 

Seit Notker Homburger Anfang der achtziger Jahre diese Schellack bei einer Auktion erwarb, ist der “Guitar Rag” – so der Titel der Platte – zu einem festen Bestandteil seines Repertoires geworden. Nie vergisst er sein Leib-und-Magen-Stück, wann immer er in einem Club, einer Bar oder Kleinkunstbühne auftritt. Manchmal spielt er es alleine, nur mit Slide-Gitarre bewaffnet, dann wieder mit seiner Band, Notty’s Jug Serenaders, einer Drei-Mann-Kapelle aus dem Bodenseeraum, die sich auf die alten Klänge des amerikanischen Südens spezialisiert hat. Bei Homburger geht die Leidenschaft des Plattensammlers mit dem aktiven Musikmachen wunderbar zusammen.

Durch das Sammeln hat er auch einen anderen prominenten Schellacksammler kennengelernt: Den weltbekannten Karikaturisten Robert Crumb, der seit Jahren in Südfrankreich lebt und wie Homburger ebenfalls eine beachtliche Kollektion von raren Platten zusammengetragen hat. Homburger hat dem amerikanischen Cartoonisten und “Fritz The Cat”-Erfinder alte Aufnahmen von Schweizer Volksmusik beschafft und Crumb war total aus dem Häuschen. “Crumb interessiert sich für alle möglichen Arten von traditioneller Musik von überall auf der Welt,” erzählt Homburger. “Doch war die Schweizer Musik auch für ihn ein weißer Fleck auf seiner musikalischen Landkarte. Er war begeistert, als ich ihm ein paar Schellacks besorgt habe.”


                                                                                                                 Notty's Jug Serenaders
Ein Tausch wurde vereinbahrt. Im Gegenzug für die Platten zeichnete Crumb Notty’s Jug Serenaders und nunmehr den Bandleader selber, eine Gemälde, das jetzt als Coverbild auf Homburgers neuer CD prangt. “Da wir einen ähnlichen Musikgeschmack haben, Crumb meine Musik gefiel und ich ihm interessante Schellacks zum Tausch anbieten konnte, war der Handel schnell perfekt,” erzählt der Konstanzer.


Auf der CD, die bei Ufer Records erschienen ist, wird der musikalische Horizont weit gespannt. Es ist ein Revue durch Homburgers musikalische Aktivitäten der letzten Jahre. Da erklingen alte Bluesnummer, die er solo oder mit den Jug Serenaders spielt. Da ist “Eingeborenenmusik vom Bodensee” zu hören,  wie Homburger traditionelle Melodien und alte Volkslieder aus dem deutsch-schweizer Grenzgebiet nennt, die manchmal in Mundart erklingen. Und da findet sich natürlich der “Guitar Rag”, jenes Stück, das er vor 35 Jahren auf dieser ominösen Schellackplatte das erste Mal hörte.

Saturday 5 December 2015

Lambert - der Mann hinter der Maske



Im Dunkeln

cw. Öffentlich tritt Lambert nur mit Antilopen-Maske und langen spitzen Hörnern auf, was dem Berliner Pianisten eine Aura des Mysteriösen und Geheimnisvollen gibt. Passend dazu setzt er sich am liebsten nach Einbruch der Dunkelheit ans Klavier, um die Stimmungen der Nacht einzufangen. Behutsam drückt er die Tasten und läßt kleine Melodien erklingen, die er mit Filz noch zusätzlich dämpft. Seine sanft schwebende Klaviermusik erinnert an Erik Satie und Frederic Mompou, so träumerisch, melancholisch und weltverloren kommt sie daher.

Der klare und volle Anschlag eines großen Flügels würde nur stören, weshalb Lambert ein altes verwittertes Instrument verwendet, dessen Töne wackelig und windschief klingen. Sie geben seinen Song-Miniaturen, die er elektronisch leicht verfremdet und mit Synthesizersounds und Klarinettentönen in dezente Arrangements hüllt, eine magische Note. Obwohl gelegentlich als “neoklassisch” bezeichnet, verleiht die Popsensibilität Lamberts Musik erst ihre eigentliche Qualität.

Lambert: Stay In The Dark (Staatsakt)

Die Besprechung erschien zuerst in der NZZ.

Graham McKenzie: Avantgarde raus aus dem Ghetto


“Wir müssen uns aktuellen Entwicklungen öffnen!”

Seit Graham McKenzie das Huddersfield Contemporary Music Festival leitet, geht das bedeutenste Festival zeitgenössischer Musik in Großbritannien neue Wege

Ein Interview von Christoph Wagner

Was in Deutschland “Donaueschingen”, ist in Großbritannien  “Huddersfield”: ein Ort als Synonym für zeitgenössische Musik! Das hat einzig und allein mit dem Huddersfield Contemporary Music Festivals (hcmf) zu tun, das in der nordenglischen Industrie- und Universitätsstadt seit 1978 stattfindet. Doch Huddersfield will nicht mehr Donaueschingen sein. Das sei 'Old School', sagt Graham McKenzie, der 2006 die Leitung des Festivals übernommen hat, das jedes Jahr Ende November 10 Tage lang stattfindet. McKenzie hat das Konzept neu ausgerichtet, um aktuellen Entwicklungen, ob in der freien Improvisation oder der Elektronik, besser gerecht zu werden und den experimentellen Geist neu zu beleben. 
                                                                                                                                                                Foto: Christoph Wagner

Was ist ihr biographischer Hintergrund, wie sind Sie nach Huddersfield gekommen?

Graham McKenzie: Vor Huddersfield war ich Direktor des “Centre for Contemporary Art” in Glasgow. Das CCA ist das schottische Äquivalent zum ICA (Institute for Contemporary Arts) in London und deckt das ganze Spektrum der Künste ab: visuelle Kunst, Film, Musik, Tanz, Literatur. Ursprünglich arbeitete ich als Sozialarbeiter, dann habe ich über zeitgenössische Kunst geschrieben, auch Fernsehspiele und Theaterstücke verfasst. Danach engagierte ich mich kulturpolitisch, um später im Kulturmanagement zu landen.

Was war ihre Vision des Festivals, als sie 2006 die Leitung übernahmen?

GMK: Besonders wichtig war mir, dem Festival wieder mehr Relevanz zu verschaffen, es aus der akademischen Ecke herauszuholen. Das Festival hatte damals ein beachtliches Stammpublikum, das jedes Jahr nach Huddersfield pilgerte. Das Programm bediente genau den Geschmack dieser Besucher. Aber es wusste wenig über den Geschmack und die Vorlieben der Leute, die nicht kamen. Dort setzte ich an. Das Festival sollte für ein jüngeres Publikum wieder an Bedeutung gewinnen. Huddersfield liegt im Zentrum vieler großen Städte in Nordengland wie Manchester, Leeds, York, Liverpool und Sheffield, aber wir waren kein Magnet etwa für Studenten von den dortigen Universitäten. Entscheidend war also, für ein junges Publikum attraktiv zu werden.

Was war ihre Strategie?

GMK: Drei Dinge waren wichtig: Erstens mussten wir den Begriff der neuen Musik breiter definieren, um auch das widerzuspiegeln, was musikalisch in der jungen Generation vor sich geht. Es gibt viele junge Musiker und Komponisten, die ganz konventionell avantgardistische Musik komponieren, aber gleichzeitig als Klangkünstler aktiv sind und etwa in Gallerien Klangobjekte installieren, und darüber hinaus noch als Performer und Improvisatoren auftreten. Deshalb umfasst der Begriff “zeitgenössische Musik” für mich alles von Noise Music auf der einen Seite bis zu Orchestermusik auf der anderen, und vieles dazwischen inklusive Klangkunst und Soundinstallationen. Wenn wir die junge Generation mehr ansprechen wollen, müssen wir in Komponisten zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Karriere investieren. Wenn man ein jüngeres Publikum gewinnen will, muß diese Generation auch auf der Bühne präsent sein, als eine Art Vorbild. Ich komme aus der visuellen Kunst, wo die Gallerien ihre Aufmerksamkeit immer auf die nächste Generation richten. Im Gegensatz dazu werden in der zeitgenössischen Musik vor allem die Geburtstage von 70 oder 80jährigen Komponisten gefeiert. Die “jungen” Komponisten, deren Namen mir zugetragen wurden, waren 50 Jahre alt. Das wollte ich ändern. Wir müssen uns den neuen Entwicklungen öffnen.
Darüber hinaus schien mir wichtig, die Musik aus dem Konzertsaal heraus zu holen und sie in anderen Örtlichkeiten zu plazieren und anders zu präsentieren. Das Festival sollte eine Art Reise für das Publikum sein. Wenn fünf Konzerte an einem Tag stattfinden, sollte es unterschiedliche Musik an fünf verschiedenen Orten sein. Das Publikum soll Musik auf fünf verschiedene Weisen erleben. Bei meinem ersten Festival lag der Anteil der Besucher unter 25 Jahren bei 3%, heute sind es fast 30%.

Bei meinen Besuchen des hcmf hatte ich oft Eindruck, dass kaum Einheimische aus Huddersfield die Konzerte besuchen….

GMK: Das möchte ich bezweifeln. Mehr als die Hälfte der Konzertbesucher kommen aus der Stadt und der Region und ungefähr 40 Prozent von weiter her. Wir nutzen den Montag während des Festivals, um eine Reihe von kostenlosen Kurzkonzerten an verschiedenen Orten zu veranstalten, die um 11 Uhr morgens beginnen und bis in die Nacht dauern. Für diese Auftritte sind die Besucherzahlen in den letzten beiden Jahren um fast 50% angestiegen. Letztes Jahr kamen 2500 Besucher zu den Montagskonzerten, was natürlich ein sehr guter Werbeeffekt ist, weil diese Leute möglicherweise auch Karten für andere Konzerte kaufen. Unsere Zahlen zeigen, dass wir in den 10 Tagen des Festival ungefähr 1,5 Million Euro für die lokale Ökonomie generieren. Wenn wir also Konzerte überall in der Stadt veranstalten, werden die Besucher auch die Café, Restaurants und Geschäfte frequentieren. Es ging mir also darum, das Festival aus dem akademischen Hochschulbereich herauszuholen und mitten in der Stadt zu plazieren. Wir sind zur Festivalzeit überall in der Stadt sichtbar. Wir haben ein Schulprogramm, wir arbeiten mit Obdachlosen, Flüchtlingen und Asylanten. Wir versuchen also, so inklusiv wie nur möglich zu sein und trotzdem Musik zu präsentieren, die eine Herausforderung ist. Ob die Besucher diese Musik im akademischen Sinne “verstehen”, ist völlig irrelevant – wichtig ist, dass sie sich die Musik anhören und dann entscheiden, ob sie sie mögen oder nicht. Auch zeitgenössische Musik muss unterhalten, Kunst muss unterhaltsam sein. Man kann natürlich auf Pop und Videospiele herunterschauen, aber letztendlich konkurriert man mit diesen Formen der Freizeitgestaltung. Wenn man ein Konzert ansetzt, konkurriert man bei den Besuchern um ihre Freizeit. Sie kommen zu dem Konzert, anstatt Fernsehen zu schauen oder ins Kino oder in den Fitness-Club zu gehen oder sich mit Freunden im Pub zu treffen. Das gilt es zu akzeptieren, was nicht bedeutet, dass man sich anbiedert oder musikalische Kompromisse macht.

Gibt es Anknüpfungspunkte an die Popmusik?

GMK: Um aus dem Elfenbeinturm herauszukommen, muss man neue Schritte gehen, wobei es nicht darum geht, Ansätze der Popmusik zu integrieren, nur um populistisch zu sein. Im Gegenteil: Ich fühle eine Verantwortung gegenüber den Künstlern aus den Bereichen, die wir abdecken, von der zeitgenössischen Kammermusik über die freie Improvisation bis zu Klanginstallationen und elektro-akustischen Experimenten. Wir sind ihre Plattform, ihr Forum. Es gibt Chancen der gegenseitigen Befruchtung, auch was das Publikum anbelangt. Lange Zeit haben zeitgenössische Musikfestivals geglaubt, Publikum aus der klassischen Musik anziehen zu können. Vielleicht war das ein Irrtum. Möglicherweise kann man eher Leute der zeitgenössischen Kultur, die an dem interessiert sind, was um sie herum vor sich geht, für avantgardistische Sounds begeistern. Ein großes Potential sehen ich im Publikum moderner Kunst, das in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen ist. Diese Leute kann man auch für neue Musik gewinnen.

Wie schätzen Sie die aktuelle Szene der neuen Musik weltweit ein? Wo passsiert Aufregendes?

GMK: Ich glaube, dass es in jedem Land interessante Künstler gibt – man muss sie nur finden. Was sich in Europa abzeichnet, ist, dass viele der zeitgenössischen Musikfestivals heute ein breiteres Programm bieten. Es beschränkt sich nicht mehr nur auf Kammer- und Orchestermusik. In Großbritannien habe ich den Eindruck, dass die experimentelle Musik sehr stark ist. In jeder größeren Stadt gibt es eine experimentelle Szene, auch Festivals, die diese Musik präsentieren – also mehr experimentelle Musik als jemals zuvor. Das macht es nicht unbedingt leichter für Musiker und Komponisten, ein Auskommen zu finden. In England mangelt es an längerfristiger Förderung, die es Künstlern erlaubt, Ideen über ein paar Jahre zu entwickeln. Es dominiert die Projekt-Förderung, was Komponisten zwingt, von einem Projekt zum nächsten zu springen.

AMM - einer der Höhepunkte beim diesjährigen Huddersfield Contemporary Music Festival

Wie informieren Sie sich über neue Komponisten, Werke und Tendenzen?

GMK: Ich reise viel, weil ich einen Grundsatz habe und nur solche Künstler und Komponisten einlade, die ich zuvor persönlich im Konzert erlebt habe. Da hilft keine CD und kein Youtube-Clip. Sie sagen nichts darüber aus, wie ein Künstler sich präsentiert und mit dem Publikum kommuniziert. Das muss ich erleben, auch um einen Eindruck zu bekommen, in welcher Örtlichkeit er oder sie am besten zu plazieren ist.

Das hcmf vergibt auch Kompositionsaufträge. Welche Rolle spielen sie?

GMK: Wir versuchen unser Profil und unsere Stellung auf dem Markt für britische Komponisten und Künstler zu nutzen. Wir geben Kompositionen in Auftrag und versuchen sie nach dem Festival international zu vermarkten durch unsere Kontakte und unsere Kooperation mit anderen Festivals.

Ich nehme an, dass sie viele Angebote erhalten. Wie gehen sie damit um?

GMK: Pro Woche bekommen ich ungefähr 80 Angebote, was eine ungeheure Menge ist. Manchmal fühle ich mich überwältigt von der Masse an Information, aber dann sage ich mir, was für ein ungeheures Privileg es ist, ein solches Festival gestalten zu dürfen. Schlußendlich bin ich ein Musikfan, der auf Entdeckungen aus ist. Es fällt mir immer noch schwer an einem Plattenladen vorbei zu gehen, ohne eine CD oder eine LP zu kaufen. Deshalb sehe ich meine Aufgabe nicht nur als Job, es ist mein Lebensstil. Jedoch brauche ich nach dem Festival eine Pause vom Musikhören. Dann gehe ich für ein paar Wochen in kein Konzert. Meine Ohren sind übervoll von den 50 oder mehr Konzerten, die wir beim hcmf bieten. Aber natürlich fühle ich eine große Verantwortung gegenüber dem Festival und den Komponisten und Musikern. Wir sind das einzig große Festival für zeitgenössische Musik in Großbritannien und für Künstler oft die einzige Chance, ihre Kompositionen in diesen Breiten einem Publikum vorzustellen.

Wie sehen Sie die Position von Huddersfield im Kontext anderer Festivals für zeitgenössische Musik auf dem Globus?

GMK: Es gibt die eher traditionellen Festivals für neue Musik, die ich als “Old School” bezeichnen würde. Wir haben mehr Gemeinsamkeiten mit Festivals wie dem Ultima-Festival in Oslo, MaerzMusik in Deutschland, die Dark Music Days in Island oder November Music in Holland, die gleichfalls versuchen, neue Wege zu gehen, um aktuelle Tendenzen besser zu spiegeln.

Der Text erschien zuerst in NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 6-2015, Themenschwerpunkt ENGLAND  http://www.musikderzeit.de