Thursday 4 May 2017

Jazztrends: Alexander Hawkins

Über die Tradition hinaus

Der Pianist Alexander Hawkins ist eines der großen Talente der britischen Jazzszene

Alexander Hawkins Trio (Foto: C. Wagner)

cw. Die Formel könnte aus der konzeptionellen Kunst stammen: ein Pianist spielt in einem Stahlcontainer ein kurzes Stück für einen einzigen Zuhörer. Zwischen riesigen Konzertzelten, Imbißbuden und CD-Verkaufsständen stand auf dem Gelände des Cheltenham Jazzfestivals 2015 ein Metallbehälter mit der Aufschrift “jazz in the box”. Darin stand ein Klavier. Hier fanden an zwei Nachmittagen Blitzauftritte von ein paar der vielversprechensten Jazzpianisten Großbritanniens statt. Alexander Hawkins war einer von ihnen. Als die Zeit für mich als alleinigem Zuhörer im Minikonzert gekommen war, legte der junge Tastenvirtuose aus Oxford ein pfiffiges Kabinettstückchen hin, das von Ellington ausgehend, sich in eine perlende Tonkaskade verwandelte, um in einem Freejazz-Orkan zu enden. Hundert Jahre Jazzgeschichte auf die Länge von drei Minuten kondensiert – alle Hochachtung!

Am Abend zuvor hatte Hawkins ein reguläres Konzert mit der Vokalistin Elaine Mitchener gegeben. Das Programm bestand aus bekannten Jazzstandards, die auf derart originelle Weise verfremdet wurden, dass sie auf ganz neue Art zu leuchten begannen. Hawkins spannte den stilistischen Bogen weit, indem er geschickt die Tradition mit der abstrakten Moderne verquirlte, was eines seiner Markenzeichen ist.

1981 in Oxford geboren, wuchs Alexander Hawkins in einer Familie auf, in der Jazz zum Alltag gehörte. Am heimischen Klavier unternahm der Kleine erste musikalische Gehversuche, die mit sechs zu regulärem Pianounterricht führten, der bald von Orgelstunden abgelöst wurde. Im Teenageralter kam er auf den Geschmack für die swingende Musik. Trotzdem schrieb er sich nach dem Abitur in Cambridge nicht zum Musikstudium ein, sondern in Jura, das er mit dem Doktortitel abschloß. Allerdings hatte bereits während der Studentenzeit die Musik endgültig die Oberhand gewonnen, weshalb der Dr. jur. nun die Berufung zum Beruf machte und Jazzprofi wurde.
                                                                                                                                 Foto: C. Wagner
Hawkins kehrte nach Oxford zurück und tauchte in die kleine, aber vitale Improvisationszene seiner Heimatstadt ein. Musiker wie der Klarinettist Alex Ward und der Keyboarder Pat Thomas nahmen ihn unter die Fittiche. “Ich übte wie ein Besessener, um das spielen zu können, was mir im Kopf herumspukte,” erinnert sich der Pianist, dessen Übungseifer bis heute kaum nachgelassen hat. “Ich nahm mir Bach und Scarlatti vor, um der Architektur der großen Barockkompositionen auf die Spur zu kommen. Im Unterschied zum Jazz, der auf die einzelne Note im Kontext eines bestimmten Akkords fixiert ist, interessierte mich die übergreifende Konstruktion.”

Konzerte in London brachten Hawkins in Kontakt mit dem alten Adel der britischen Improvisationsszene: Lol Coxhill und Evan Parker wurden zu Mentoren, der Drummer Louis Moholo-Moholo holte ihn in seine Band. “Es ist schon merkwürdig, dass ich mit freier Improvisation ins Profimusikerleben einstieg, obwohl ich mich Jahre lang intensiv mit der Jazztradition beschäftigt hatte,” wundert sich der Pianist.

Bei einem Aufenthalt in New York lernte Hawkins den Drummer Harris Eisenstadt und den Kornettisten Taylor Ho Bynum kennen. Aus dieser Begegnung ging das Convergence Quartet hervor, eine Gruppe, die die Nahtstelle zwischen notierter Musik und freier Improvisation erkundet. “Offene Komposition” nennt Hawkins die Herangehensweise.

Zur Orgel – diesmal der Marke Hammond - kehrte er mit Decoy zurück, einem Trio mit Steve Noble (drums) und John Edwards (Baß), das gelegentlich durch die amerikanischen Saxofonisten Joe McPhee oder Marshall Allen vom Sun Ra Orchestra erweitert wird und viel Kritikerlob einheimste. Hawkins gewann an Profil und wurde in der englischen Musikpresse als “interessantester Hammondspieler der letzten Dekade” gepriesen.

Obwohl er weiterhin die spontane Begegnung bei Konzertauftritten oder im Studio sucht (ob mit den Schlagzeugern Han Bennink oder Louis Moholo-Moholo, den Saxofonisten John Surman bzw. Evan Parker oder wie beim Berliner Jazzfest 2016 mit dem amerikanischen Trompeter Wadada Leo Smith), stehen inzwischen die eigenen Gruppen im Vordergrund. Sein sechsköpfiges Ensemble mit dem Violinisten Dylan Bates (dem jüngeren Bruder von Django Bates) und dem Baßklarinettisten Shabaka Hutchings besticht durch eigenwillige Klangfarben, wobei die Arrangements viel Raum für spontanes Spiel lassen. “Meine Kompositionen sollen die Autonomie der Musiker nicht einschränken, sondern fördern und vergrößern,” erklärt der Bandleader.

Das Rhythmusgespann seines Sextetts (Tom Skinner, Schlagzeug und Neil Charles, Baß) die ebenfalls in der Ethiojazz-Combo des äthiopischen Vibrafonisten Mulatu Astatke für den Groove sorgt, ist auch im Alexander Hawkins Trio für die rhythmische Basis zuständig, obwohl die Rollen eigentlich laufend wechseln. Dabei geht das Trio nicht in die gleiche Richtung wie viele der aktuellen Jazzpianotrios - Hawkins schwebt etwas anderes vor. Sein Konzept zielt auf individuelle Unabhängigkeit in der Einheit als Gruppe: “Jedes Mitglied folgt seinem eigenen Kompass, ohne dass wir uns laufend aufeinander beziehen, wobei die Musik dennoch zu einem geschlossenen Ganzen wird.”

Zu den Gruppenaktivitäten kommen vermehrt Soloauftritte hinzu, bei denen Hawkins mit seinen profunden Kenntnisse der Jazztradition wuchern kann. Er liebt diese Dekonstruktionen der Tradition, wobei er die Kompositionen, ob von Ellington oder Monk, in ihre Einzelteile zerlegt, um sie danach wieder  - simsalabim - zusammenzubauen. Das geschieht alles völlig organisch - wie von Zauberhand! Allein auf der Bühne zu stehen, empfindet der Pianist jedesmal wieder als neue Herausforderung, gilt es doch, die Furcht vor der Stille nicht panisch mit einem Schwall von Noten zuzukleistern, sondern mit Ruhe, Konzentration und Verstand ans Werk zu gehen.

Auswahldiskographie:

Alexander Hawkins & Evan Parker: Leaps in Leicester (Clean Feed)
Alexander Hawkins Ensemble: Step Wide, Step Deep (Babel)
Alexander Hwakins Trio (AH Music)
Alexander Hawkins: Solo Piano - Song Singular (Babel)

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